Der mörderische Angriff der Hamas auf Israel am 07.10.2023, aber auch die darauf folgenden Reaktionen, die von Empathielosigkeit bis zu offen antisemitischen Ausschreitungen reichen, zeigen auf ein Neues, wie wirkmächtig der Antisemitismus bis heute ist. Zwar dürfte diese Erkenntnis niemanden, der sich schon länger mit dem Thema beschäftigt, ernstlich überraschen, doch die inzwischen auch in Bremen erreichten Ausmaße und neuen Qualitäten des Judenhasses sind zutiefst erschreckend. Das Bremer Bündnis gegen Antisemitismus ist ein Zusammenschluss aus Initiativen und Einzelpersonen, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, diesem Trend entgegenzutreten.

Der Kampf gegen Antisemitismus setzt einen Begriff von seinem Gegenstand voraus. Erst durch das Verständnis der Funktion und der wesentlichen Motive des Antisemitismus kann wirkmächtig gehandelt und ein naiver Umgang mit Antisemiten vermieden werden. Wir können hier zentrale Motive nur in Grundzügen nennen.

Antisemitismus ist keine Unterform des Rassismus.

Entgegen einer viel verbreiteten Meinung ist Antisemitismus nicht als Rassismus gegen Juden zu verstehen, auch wenn er bisweilen rassistische Komponenten in sich aufnimmt. Der Rassismus macht die Menschen klein: unterentwickelt, unzivilisiert, weniger intelligent, kriminell, barbarisch. Der Antisemitismus hingen stilisiert die Juden zu etwas Höherem: Juden werden als mächtig, verschwörerisch, das Weltgeschehen lenkend und die Welt ins Unheil stürzend imaginiert. Für den Antisemiten gibt es daher viele Völker, gleich- oder minderwertig, aber nur ein Anti-Volk, von dessen Tilgung das Glück der Welt abhängt. Daher läuft der Antisemitismus in letzter Konsequenz auf Erlösung durch Vernichtung hinaus: „Für die Faschisten sind die Juden nicht eine Minorität, sondern die Gegenrasse, das negative Prinzip als solches; von ihrer Ausrottung soll das Glück der Welt abhängen.“1

Antisemitismus hat seine Wurzel in der kapitalistischen Form der Vergesellschaftung.

Der moderne Judenhass dient nicht nur als universales Erklärungssystem, er ist nicht nur „Weltanschauung“, sondern auch „Leidenschaft“2 des Antisemiten, die allerdings nicht aus einem einfachen Denkfehler oder liebloser Erziehung entspringt. Die Ursachen für die Persistenz des Antisemitismus liegen in der antagonistischen Gesellschaft, gegenüber deren Bewegungsgesetzen der Einzelne ohnmächtig ist und die er nicht unmittelbar zu durchschauen vermag. Setzen sich mit dem Untergang des Feudalismus apersonale Herrschaftsverhältnisse durch, die im Bewusstsein des Einzelnen notwendig in verkehrter (z.B. personalisierter) Form erscheinen, so ist der Antisemitismus als „regressive Revolte“3 gegen diese apersonale Herrschaft zu verstehen: Abstrakte Vermittlungsformen wie der Markt und das bürgerliche Recht werden von der produktiven Sphäre – Handwerk, Industrie, Technik etc. – abgespalten und auf den Juden projiziert. In ihm sind die Vermittlung, das Abstrakte, Künstliche und Zersetzende gegenüber dem vermeintlich Konkreten verkörpert. Dem entspricht die nazistische Unterscheidung von „raffendem“ und „schaffendem“ Kapital. In diesem Sinne ist der Antisemitismus „negative Leitidee“4 einer Moderne, die ihre Versprechen einzulösen bisher nicht in der Lage war.

Antisemitismus ist ein ideologisches Mischwesen.

Den christlichen Antijudaismus und den zeitgenössischen Antisemitismus verbinden starke Kontinuitäten. Allerdings hat sich der Antisemitismus immer wieder erfolgreich an die herrschenden gesellschaftlichen Selbstverständnisse angepasst und dementsprechend seine Erscheinungsweise verändert. Zu einer Zeit, da selbst die extreme Rechte vorwiegend kulturalisisch und nicht biologistisch argumentiert, hat der „Rassen“-Antisemitismus weitestgehend ausgedient, nicht aber der Antisemitismus an sich. Er erfüllt für die ohnmächtigen Vereinzelten eine notwendige psychische Funktion, verspricht Ersatzbefriedigung im kollektiven Narzissmus und ist als „Schiefheilung“ die Alternative zur Individualpathologie. Die heute vorherrschende Form des Antisemitismus ist der Antizionismus. Hing die apokalyptische Sehnsucht zuvor an der Elimination der Juden, ist es heute die Auslöschung des Judenstaates, von der die Zukunft der Menschheit abhängen soll.5

Antizionismus ist Antisemitismus.

Es ließe sich durchaus auf die Geschichte der innerjüdischen Debatte um das Für und Wider eines jüdischen Staates hinweisen, insofern hat die Verknüpfung von Antizionismus und Antisemitismus einen historischen Index. Allerdings hat sich angesichts des Holocaust und des darin in Erscheinung tretenden Motivs der totalen Vernichtung die Notwendigkeit eines jüdischen Schutzraumes bewiesen. Mit der Gründung des Staates Israel 1948 geht das Versprechen einher, dass die vom umgreifenden Antisemitismus Verfolgten der wahnhaften Verfolgung nicht mehr schutzlos ausgeliefert sein sollen. Der jüdische Staat ist deshalb ein Skandalon für jeden Antisemiten, denn er steht für die Bereitschaft, sich seinem projektiven Wahn – und dies im Zweifel auch militärisch – entgegenzustellen, eine Bereitschaft, die Israel traurigerweise seit seiner Staatsgründung immer wieder zeigen musste und heute noch muss. Der Antizionismus, also die Ablehnung des jüdischen Emanzipationsbestrebens und damit die Forderung zur Auflösung des jüdischen Staates, verweigert sich nicht nur dieser historischen Einsicht, er fordert, dass Juden dem Antisemiten gegenüber wieder schutzlos sein sollen. Ausnahmslos alle antijüdischen/antisemitischen Stereotype und Tropen finden sich auch in Bezug auf Israel, sei es die Legende vom Kindermord oder das Phantasma der Zersetzung der autochthonen Gemeinschaften im Nahen Osten.

Der Hass auf den jüdischen Staat begleitet Israel seit seiner Gründung, welche die umliegenden arabischen Staaten veranlasste, dem neu ausgerufenen Staat den Krieg zu erklären und in israelisches Gebiet vorzurücken. Infolge des Krieges, den Israel für sich gewinnen konnte, wurde deutlich, dass sich der in den arabischen Ländern kultivierte Antisemitismus6 in der Ablehnung Israels fortsetzte: Ein Pariavolk, wie es die Juden im Islam darstellen, dürfe um keinen Preis einen eigenen Staat im Nahen Osten erlangen.7 In Deutschland, aber auch anderen westlichen Ländern, weste währenddessen noch der klassische Antisemitismus fort. Es war die Linke, die Anschluss schaffte, indem sie sich infolge des Sechs-Tage-Kriegs 1967 auf die neue Gestalt des Antisemitismus – den Antizionismus – einschwor und Israel als imperialistischen Brückenkopf und Inbegriff des Kapitalismus bekämpfte. „Die Allianz des antisemitischen Spießer-Stammtisches mit den Barrikaden“8, die Jean Améry 1969 kritisierte, hat heute einen mächtigen Verbündeten im politischen Islam gefunden. Umgekehrt darf sich der politische Islam über Beifall von Seiten der Linken freuen, insbesondere nachdem mit dem Untergang der Sowjetunion ihr zentraler Orientierungspunkt weggebrochen war. „Der Kalte Krieg [schien] die Tatsache aus dem Gedächtnis getilgt zu haben, daß der Widerstand gegen eine imperiale Macht nicht notwendigerweise fortschrittlich sein muß, daß es auch faschistische ‚Antiimperialisten‘ gegeben hat.“9 Nirgends zeigte sich diese Affirmation alles Anti-Westlichen deutlicher als in den Reaktionen bedeutender Teile der Linken auf 9/11, das als antiimperialistischer Widerstand gefeiert wurde. Der Islamismus als Speerspitze der Antimoderne ist seither immer wieder Referenzpunkt von zivilisationsmüden Linken, die in der vermeintlich ursprünglichen und authentischen islamischen Kultur eine Negativfolie zum Westen zu finden glauben. Seit Beginn der 2010er-Jahre war es zunächst ruhig geworden um das links-islamistische Bündnis10, infolge des 07.10. ist es jedoch wieder global auf dem Vormarsch, diesmal im Verbund mit einem „gebildeten Feuilleton-Antisemitismus“ (M. Schwarz-Friesel). In Gestalt von islamistischen Gruppen, einer Melange aus klassisch-antiimperialistischen und durch postkoloniale Theorie inspirierten Aktivisten sowie einer breiten Trägerschicht in Universitäten und Kulturinstitutionen zeichnet dieses Bündnis erneut nicht nur für eine Vielzahl antisemitischer Übergriffe bzw. deren Relativierung verantwortlich, sondern arbeitet aggressiver denn je einer Normalisierung des Antizionismus zu: Ihre zentralen Anliegen sind die Entspezifizierung des Holocaust, die Delegitimierung des jüdischen Staates und die Apologie islamischen Terrors.

Angesichts des grassierenden Antisemitismus in Bremen – in der sogenannten Mitte der Gesellschaft, in rechten wie migrantischen Milieus, in linken Politgruppen, Kulturvereinen, an Kunsthochschule und Universität – fordern wir:

Gegen jeden Antisemitismus! Am Yisrael Chai!

Bündnis gegen Antisemitismus Bremen


  1. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 2010, S. 177. ↩︎

  2. Sartre, Jean-Paul: Überlegungen zur Judenfrage, in: ders.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. 2, hg. v. Vincent von Wroblewski, Reinbek bei Hamburg 2017, S. 14. ↩︎

  3. Grigat, Stephan: Kritik des Antisemitismus heute. Zur kritischen Theorie antijüdischer Projektionen, der Persistenz des Antizionismus und der aktuellen Gefahr des islamischen Antisemitismus, Working Papers #001, Centrum für Antisemitismus- und Rassismusstudien, Köln 2022. Online abrufbar unter: https://katho-nrw.de/fileadmin/media/foschung_transfer/forschungsinstitute/CARS/CARS_Workingpaper_2022_001_Grigat.pdf  ↩︎

  4. Salzborn, Samuel: Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne, Frankfurt am Main/New York 2010. ↩︎

  5. Grosfoguel, Ramón: „We find ourselves in a deeply spiritual and messianic moment: either we organize and stop this injustice [gemeint ist der israelische Krieg gegen die Hamas], or we move unfailingly towards the destruction of life on Planet Earth.“ Grosfoguel, Ramón: “Gaza: The Warsaw Ghetto of the 21st Century”, in: Islamic Human Rights Commission, 01.02.2024. Online abrufbar unter: http://www.ihrc.org.uk/gaza-the-warsaw-ghetto-of-the-21st-century  ↩︎

  6. Ourghi, Abdel-Hakim: Die Juden im Koran: Ein Zerrbild mit fatalen Folgen, München 2024; Cüppers, Martin: Halbmond und Hakenkreuz. Das „Dritte Reich“, die Araber und Palästina, Darmstadt 2007. ↩︎

  7. Schwartz, Adi/Wilf, Einat: The War of Return. How Western Indulgence of the Palestinian Dream Has Obscured the Path to Peace, New York 2020, S. 29, 91. ↩︎

  8. Améry, Jean: Der ehrbare Antisemitismus, in: ders.: Werke, Bd. 7, hg. v. Irene Heidelberger-Leonard, Stuttgart 2005, S. 140. ↩︎

  9. Postone, Moishe: „Geschichte und Ohnmacht. Massenmobilisierung und aktuelle Formen des Antisemitismus“, in: ders.: Deutschland, die Linke und der Holocaust, Freiburg i. Br. 2020, S. 205. ↩︎

  10. Rickenbacher, Daniel: „Grundlagen und Formen der Annäherung zwischen dem Islamismus und der radikalen ‚globalen Linken‘ nach 9/11“, in: Hagen, Nikolaus/Neuburger, Tobias (Hg.), Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft. Theoretische Überlegungen, Empirische Fallbeispiele, Pädagogische Praxis, Innsbruck 2020, S. 87–107. ↩︎